Flucht aus Ostpreussen
Ich kann mich erinnern, so weit ich zurückdenken kann, dass das Thema "Flucht" sowohl meine Mutter als auch meinen Vater geprägt hat. Bei beiden waren es Kindheitserinnerungen. Es gibt von meinem Vater keine detaillierte Schilderung der Flucht (die führte von Memel über die kurische Nährung in das deutsche Kernland), wohl aber zwei Briefe von meinem Großvater väterlicherseits, der von den Kämpfen in Ostpreussen berichtet (siehe den Abschnitt "Erinnerungen an Memel")
Mütterlicherseits gibt es die Aufzeichungen von Joachim Lörzer in der "Familienchronik Lürzer/Lörzer" und die Aufzeichungen von Ulrich Lörzer aus seinen Lebenserinnerungen, die hier auf diesen Seiten folgen und Grundlage für die Einordnung der Abläufe bei der Flucht der Martha Lörzer, meiner Großmutter, bilden.
Zuvor jedoch einige kurze Eckdaten und Informationen zu den Ereignissen:
Die wichtigsten militärischen Ereignisse
| Datum | Ereignis |
|---|---|
| 21. Okotber 1944 | Beim Nemmersdorf betritt die Rote Armee das erste Mal ostpreussischen Boden und richtet ein Massaker in der Zivlbevölkerung an ⧉ |
| 13. Januar 1945 | Beginn der Ostpreußischen Operation: Die 3. Weißrussische Front eröffnete mit starkem Artilleriebeschuss den Angriff auf Königsberg und Insterburg |
| 22.–24. Januar 1945 | Mlawa–Elbinger Unteroperation: Durchbruch sowjetischer Truppen bei Mlawa und Elbing, Einkreisung Ostpreußens an der Ostseeküste |
| Anfang Februar 1945 | Heilsberger Unteroperation: Eroberung des Heilsberger Grabens und Vormarsch in Richtung Allenstein |
| Mitte Februar 1945 | Braunsberger Unteroperation: Einnahme von Braunsberg zur weiteren Einkesselung von Königsberg |
| Ende Februar–Anfang März 1945 | Samlander-Unteroperation: Landung auf der Samland-Halbinsel und Isolierung Königsbergs vom restlichen Reichsgebiet |
| 6.–9. April 1945 | Königsberger Unteroperation: Sturm auf Königsberg und vollständige Einnahme der Stadt durch die Rote Armee |
| 25. April 1945 | Abschluss der Ostpreußischen Operation; letzter deutscher Widerstand gebrochen |
Der Name "Nemmersdorf" wurde dabei speziell von der Deutschen Propaganda der Deutschen Öffentlichkeit eingetrichtert ... .
Massaker bei Nemmersdorf
Bei sämtlichen Schilderungen und Büchern zu dem Thema "Flucht aus Ostpreussen" steht am Anfang nahezu immer der Name eines Ortes: Nemmersdorf. Dieses Dorf hat zuerst zu spüren bekommen, was es bedeutet, wenn der Krieg und die von Deutschen verübten Gräueltaten ihren Weg auf den deutschen Boden findet.
Der 16. Oktober 1944 ist der Tag, an dem das erste Mal Soldaten der Roten Armee im 2. Weltkrieg den Boden der "Provinz Ostpreussen" betreten. Der Ort Nemmersdorf (heute Majakowskoje, Oblast Kaliningrad) wird erobert und als der Ort nach einem Gegenangriff der deutschen Truppen von den Russen aufgegeben wird, stellt sich heraus, dass die Rote Armee ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat.
Erste Folge der Doku-Serie "Die große Flucht" - ab ca. 9:00 wird über Nemmersdorf berichtet
Heute wissen wir, dass dieses Massaker - nur was die Anzahl der Opfer angeht, ich will das nicht kleinreden - weit weniger grausam war, als Gräueltaten der Deutschen Verbände auf russischem Boden und dass dieses Massaker von Joseph Goebbels persönlich in Stellungnahmen und Wochenschauberichten als Blaupause für die "bolschewistische Grausamkeit" instrumentalisiert wurde.
Stalins Vorgabe
Aber die Aufrechnung von Opfern hin oder her - es war klar, dass preussisches, deutsches Kernland nicht mehr sicher war. Josef Stalin gab als Parole aus, dass es in diesem Krieg eben nicht nur um die Vertreibung der Deutschen aus russischem Gebiet gehen könne:
Und weiter:
Das faschistische Untier muss in seiner eigenen Höhle erledigt werden!
– Josef StalinDie Rote Armee würde also Rache nehmen - eine Flucht war unausweichlich. Und wieder aus heutiger Sicht - der Sicht eines Nachgeborenen mit Zugang historischen Fakten - wissen wir, wie grausam diese Rache gewesen sein muss.
Beispielose Kriegsverbrechen
Der jüdische Schriftsteller und Journalist Ralph Giordano (1923-1940), der 1987 mit seinem Buch "Die zweite Schuld - Von der Last Deutscher zu sein" eine breite Diskussion ausgelöst und zur Zielscheibe von Neonazis wurde, hat das Grauen auf den Punkt gebracht. Er bezeichnete 1998 in einem Artikel den russischen Vormarsch als "düsterstes Kapitel in der Kriegsgeschichte der Menschheit – Orgien der Gewalt, darunter die wahrscheinlich größte Massenvergewaltigung aller Zeiten.“ Der Schriftsteller Andreas Kossert geht 1998 in seinem Buch "Kalte Heimat - Die Geschichte der deutschen Vertriebene" von 1,9 Millionen Vergewaltigungen aus.
Es geht hier wie gesagt nicht um eine gegenseitiges Aufrechnen von Gräueltaten. Man muss in diesem Zusammenhang einfach nur wissen, dass die Deutsche Propaganda die "Bolschwestische Bestie" wie eine Monstranz immer wieder anführte - was deutsche Soldaten auf russischem Gebiet angerichtet haben, war damals nicht so bekannt bzw. sollte nicht bekann werden.
Die Flucht war alternativlos
Jedenfalls war es den Menschen klar, dass Familien in Frontnähe nicht sicher waren. Das muss auch meinem Großvater Gustav Lörzer klar gewesen sein. Nemmersdorf war nur wenige Kilometer von der Familie entfernt. Er schickt die Familie wenige Tage nach dieser Auseinandersetzung in Nemmersdorf nach Rummelsburg (heutiger Name "Miatsko") und glaubt seine Familie dort sicher. Aber das ist ein Trugschluss.
Rummelsburg ist dann für einige Wochen ein sicherer Ort ... .
Ab Januar 1945 beginnt ein Wettlauf mit der Zeit und die eigentliche Flucht beginnt. Die Details dazu beschreibt nachfolgend Ulrich Lörzer in seinen Lebenserinnungen.
Die Familie Lörzer ist nur eine von Zehntausenden anderen Familien mit demselben Schicksal. Auch die Familie meines Vater ist aus Ostpreussen geflohen. Allerdings auf dem Fussweg über die Kuhrische Nehrung - mein Vater stammte aus Memel (heutiges "Klaipeda"). Neben den Briefen meines Großvaters väterlicherseits und einigen Fotos aus dem zerstörten Memel gibt es jedoch keine detaillierten Aufzeichnungen der Flucht der Familie meines Vaters. Jedenfalls strandet mein Vater auch in Lübeck und lernt dort Weihnachten 1956 meine Mutter kennen.
In den folgenden Schilderungen werden viele Ortsnamen erwähnt. Sucht man diese heute bei Google Maps, dann wird man diese nicht finden, denn diese Orte gehören zur Oblast Kaliningrad (ehemals Königsberg) und sind heute russisch. Oder sie gehören heute zu Polen und haben polnische Ortsnamen. Zur Orientierung (und das war die Grundlage für die Erstellung der Fluchtroute) hier eine Übersicht. Die Ortschaften befinden sich heute also zum Teil auf russischem, teilweise auf polnischem Gebiet. Bei der Flucht meines Vaters aus dem Memelland kämen dementsprechend auch noch litauische Ortsnamen hinzu - das wird hier aber nicht weitergehend thematisiert.
Die Zeit nach der Flucht
Diese Zeit wäre ein eigenes Kapitel wert. Joachim Lörzer und Ulrich Lörzer berichten in ihren Erinnerungen sehr ausführlich von dieser Zeit. An dieser Stelle möchte ich nur erwähnen, dass beide - und auch meine Mutter, wenn ich mir ihr darüber gesprochen habe - diese Zeiten trotz der Entbehrungen als positiv empfunden haben.
Nachwirkungen einer entbehrungsreichen Zeit
Anekdote dazu: In den letzten Jahren bin ich mit meiner Mutter immer Einkaufen gegangen. Bei meinen Besuchen im Pflegeheim und dem Spaziergang im Wald im Rollstuhl waren wir auf dem Rückweg immer beim Edeka eingekehrt und haben ein paar Klenigkeiten für den kleinen Kühlschrank in ihrem Zimmer im Heim gekauft. Immer hieß es, dass wir in die Regale unten schauen, dort, wo die Eigenmarken sind ("Gut & Günstig"), die genauso gut sind, wie die teuren Sachen. Auch wenn Obst in Konserven gekauft wurde, war es immer egal, was das ist. "Das schmeckt alles", meinte meine Mutter und war dann auch immer neugierig, wenn es sie dann mal Dinge wie "Mango" oder "Papaya" probiert hat. Ich finde das eine generell sehr gute Haltung, die ich mir z.T. auch angewöhnt habe. Ich kaufe eigentlich immer No-Name oder Eigenmarken in SUpermärkten, es sei denn, ich glaube, dass das sogenannte "Markenprodukt" wirklich besser ist. Wer also in meinen Kühlschrank schaut, wird kaum "Markenprodukte" finden. Dabei geht es gar nicht mal so sehr um das Geld und das, was man spart, sondern einfach auch um das Prinzip und das Sich-Einrichten mit Dingen, die schlicht einfacher sind.
Kurzum: die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war entbehrungsreich und nicht von Überfluss geprägt. Aber die "Stunde Null" war auch hier ein Startschuß, ein Aufbruch in eine ungewisse Zukunft (ist die Zukunft nicht immer ungewiss, egal von welchem Standpunkt aus man das betrachtet?), die sich aber schon damals sehr schnell eben nicht als "Weltuntergang" herausgestellt hat. Magda Göbbels soll im Führerbunker, kurz vor ihrem Ableben gesagt haben, dass die bevorstehende Welt ohne Nationalsozialismus und Führer nicht lebenswert sein. Sie hat mit diesem Argument ihre eigenen Kinder getötet.
Ich denke, diese Zeit nach dem 2. Weltkrieg können die Zeitzeugen und auch die Nachgeborenen als eine Zeit des persönlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs ansehen. Mit dieser Aussage würde ich es - für eine Seite, die sich mit Ahnenforschung auf Amateur-Level bewegt belassen. Im Kapitel "Historische Einordungen aus der Sicht eines Nachgeborenen" greife ich das Thema nochmal auf und berichte unter anderem davon, wie meine Onkel diese Zeit in der Nachbetrachtung sehen und wie sehr ihnen so etwas Abstraktes wie "Demokratie" ans Herz gewachsen ist.
Schilderungen von Ulrich Lörzer
Beginn der Flucht, Oktober 1944
Diese Fahrt zum Königsberger Hauptbahnhof gehört wieder zu den Ereignissen und Erlebnissen meiner Kindheit, an die ich mich deutlicher als an andere Geschehnisse erinnere. Das liegt wohl einmal daran, dass wir auf einem offenen Lastwagen, auf einem und mit einem Auto überhaupt, fuhren. Dann aber auch daran, dass die Fahrt quer durch die zerbombte Stadt Königsberg ging. Seltsam, wie sich diese Bilder bei mir eingeprägt haben. Ein fürwahr gespenstisches Bild sehen wir. Die Fahrt durch die völlig zerbombte Straße der SA, die eigentlich Königstraße hieß, wirkt unnatürlich. Zum ersten Mal sehe ich Ruinen. Gesteinstrümmer türmen sich an den Straßenseiten. Es riecht stark nach Verkohltem.
Wir Kinder sind noch zu klein, um ermessen zu können, was hier tatsächlich geschehen ist, welcher Schaden entstanden ist. Kulturgüter in ihrem Wert einschätzen zu können, davon sind wir Kinder meilenweit entfernt. Nur im Unterbewusstsein und im Zusammenhang mit unserer Abfahrt schwant uns, dass es um Dinge geht, die viel wichtiger sind, als wir das verstehen können. Wir haben als Kinder doch nicht daran geglaubt, dass dies die letzten Bilder sind, die wir aus Ostpreußen mitnehmen. Ist es Schicksal, dass die Trümmer des zerstörten Königsberg unsere letzten Bilder Ostpreußens sind? Wir Kinder nehmen diese Eindrücke mehr in kindlicher Neugier auf. - Mit diesem Abreisetag werden wir alle unseren Vater nicht mehr wiedersehen. Doch das wissen wir zu dieser Stunde noch nicht. Wir fahren an diesem Morgen in eine ungewisse Zukunft. - Viele Gedanken, die ich in diesen meinen Lebenserinnerungen niederschreibe, sind durch die Rückbesinnung bereits irgendwie verfärbt, geben die Vergangenheit in vielen Details auch aus dem Blickwinkel des Vergangenen wieder. Es mischen sich subjektive Eindrücke mit objektiven Analysen zu einem Bild, das vielleicht ein wenig konstruiert wirken mag. Doch das liegt allen Rückbesinnungen zugrunde. Und dadurch mag auch manche Begebenheit relativiert werden. Es ist schwer, kindliche Eindrücke in die Gedankenwelt von Erwachsenen zu übertragen, ohne sie vielleicht zu verfälschen.
Rummelsburg, Zwischenstopp Konitz
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Die Wege zum Einkaufen sind weit und führen stets durch den dunklen Buchenwald. Nicht, dass wir Jungen Angst gehabt hätten. Doch in dieser Jahreszeit wird es früh dunkel, es ist nasskalt und die ersten Nachtfröste setzen ein. Es gibt natürlich keine Wegbeleuchtung. Hinzu kommt, dass wir Kinder in der Stadt weiter die Schule besuchen müssen. Ich erinnere mich noch, dass die Klasse praktisch nur aus Kindern aus Bochum bestand. Die Eltern/Mütter waren wegen der Bombenangriffe nach hier evakuiert worden. - In diesem Zustand, unter diesen Bedingungen soll Mutti sich auf die Niederkunft vorbereiten, soll sich auf ein neues Leben freuen, das sie gebären wird. Was mag sie wohl in dieser Zeit gedacht haben? Der Mann und Vater hat keine Möglichkeit bei ihr zu sein, auch wenn er täglich einen Brief schreibt. Der Russe ist inzwischen tief in Ostpreußen eingedrungen und das Drama und die Gräuel von Nemmersdorf sind bekannt geworden. Hiermit verbunden gesellen sich Sorgen um die Verwandtschaft, um ihre Eltern und ihre Schwester noch dazu. Wahrlich keine tröstende, beruhigende Situation. Es ist ein Glück, dass Frau Mahnke mit dabei ist, dass Halina uns hilft und wir als Kinder die heikle Situation zu begreifen beginnen. Wo es nur geht, machen wir Wege, die alle entlasten. Da wir abrupt aus einer heilen Welt herausgerissen worden waren, es uns also vorher gut ging, sogar sehr gut, fühlen wir Kinder uns, Dorchen eingeschlossen, gesund und stark. Dies ist mit ein Umstand, dass wir alle danach noch kommenden Strapazen so gut, so unbeschadet überstanden haben. Denn das sei auf dem Vorwege schon gesagt: Joachim, Reini, Dorchen, ich und - mit Einschränkungen - Eddachen, haben dank dieser unserer Konstitution die Flucht praktisch ohne eine ernste Krankheit überstanden. Ist es vielleicht die uns vererbte robuste Natur, die ostpreußisch-österreichische, die uns dies hat überstehen lassen?
Dezember 1944 - Geburt von Sabine Lörzer
Mutti ist sehr schnell aus dem Wochenbett wieder ›nach Hause‹ gekommen. Die Unruhe und Sorge um ihre Familie ließ ihr keine Ruhe. Doch sei hier angemerkt, dass sie, bis auf Sabinchen, alle ihre Kinder zuhause geboren hat, immer ohne Komplikationen. Sie muss diesbezüglich eine unwahrscheinlich gute Natur gehabt haben. Nur so ist zu erklären, dass sie diese ganzen Belastungen so bewundernswert überstanden hat. Mit Papi stand sie seit der Abfahrt aus Neuhausen im täglichen Briefkontakt. Tröstende und bewundernde Worte stehen in diesen letzten Briefen von Papi an seine Familie.
Das Weihnachtsfest erleben wir noch in der Veranda einigermaßen unbeschwert. Nach dem Umzug nutzen wir Kinder auch hier die Gelegenheit, uns die nähere Umgebung anzuschauen. Schon während der Zeit im Schweizerhaus haben wir eifrig Bucheckern gesammelt, ausgepult und die Kerne gegessen. Sie schmeckten uns. - Der Winter ist recht kalt, doch kann ich mich nicht erinnern, dass wir, im negativen Sinn, gefroren haben. Im Nachhinein fällt mir ein, dass das Landratsamt, in dem wir nun wohnten, doch schon ziemlich leer war, die Behörde sich bereits aus dem Staub gemacht hatte, wieder weit vor der Zivilbevölkerung. Toll, wie der Staat für seine Bediensteten, nicht aber für seine Bürger in den letzten Kriegsmonaten sorgte! Die Durchhalteparolen, und damit verbunden für viele Menschen der Tod, wurden nur auf das Volk angewendet. - Seltsam, welche Gedanken mich beim Schreiben dieser Zeilen bewegen. Wie unaufgeklärt und obrigkeitsergeben war doch die Bevölkerung. Oder nicht? War sie nur durch die Gauleiter, die Parteibonzen zur Ohnmacht verdammt? Diese setzten sich meist zur rechten Zeit in den Westen ab.
Auch wenn wir noch zu klein waren und vollkommen unpolitisch dachten und lebten, wurde uns doch immer mehr klar, dass nichts Gutes für die Zukunft zu erwarten war. Unruhe in der Bevölkerung. Wagentrecks waren immer öfter auf den Straßen zu sehen. In dieser Zeit besuchen wir Jungen Familie Heisler, die nicht allzu weit entfernt wohnt. Die Eltern kannten Heislers von der Rummelsburgzeit 1937-1940. Meines Wissens war Herr Heisler ein Kollege von Papi aus dem Finanzamt - Heislers wohnten nach dem Krieg in Ratzeburg in Schleswig-Holstein, wo ich sie mehrere Male besucht habe. Tochter Hannelore ist Ende der 50er Jahre nach Los Angeles/Amerika ausgewandert. Die Mutter folgte nach dem Tod ihres Mannes nach.
Auch im Januar 1945 besuchten wir noch kurze Zeit die Schule. Inzwischen war tiefster Winter mit viel Schnee und strengen Frösten. Eines Tages kamen die Großeltern Borchert, Muttis Eltern, plötzlich an, und nur wenige Tage später auch Tante Anna mit ihren drei Kindern Gerhard, Werner und Heidi. Annemarie war, wie bereits erwähnt, 1942 verstorben, Heidi 1943 geboren. Unsere Anschrift war den Großeltern und der Tante wohl über Papi bekannt. Wahrscheinlich gab es diesbezüglich Absprachen, dass sie zuerst zu uns kommen sollen, einen Anlaufpunkt haben. Für unsere Mutter war dies alles zunächst eine große Beruhigung, da sie nun wusste, dass ihre nächste Verwandtschaft aus dem inzwischen eingekesselten Ostpreußen noch herausgekommen ist. Trotzdem waren es in den drei Zimmern nun chaotische Verhältnisse mit so vielen Menschen auf engstem Raum.
Richtung Westen
Es kam wie es kommen musste: Am späten Nachmittag des 30. Januar 1945 hieß es plötzlich, dass in wenigen Stunden, ich glaube, es waren keine zwei Stunden Zeit, ein Zug mit der Dienststelle Krebs nach Westen abfährt, mit Ziel Güstrow in Mecklenburg. Bruder Reinhard hat an diesem Tag Geburtstag. Eine große Hektik entstand. Ich weiß nicht mehr aus welchem Grund das erfolgte, dass wir Betten, unsere Federbetten - übrigens gestopft mit Daunenfedern von Omchen Borchert - für jedes Enkelkind bekamen die Töchter ein fertiges Inlett - in festen Säcken der Dienststelle vorab zukommen ließen, die diese Säcke zur Entlastung unseres übrigen Gepäcks mitnahmen, eine segensreiche Sache, wie sich später noch herausstellen wird. Beinahe kopflos wurde nun in Kürze zusammengepackt, was man so glaubte, mitnehmen zu müssen. Es ist müßig, im Nachhinein darüber zu streiten, ob alles richtig gemacht wurde. Da nützte später kein „hätte ich doch" usw. mehr. Man bedenke die Situation: Mutter mit 6 Kindern, mit einem Baby!
So gut wir konnten packten wir mehr oder weniger notwendige Dinge zusammen. Was konnten wir Kinder schon tragen. Nicht viel. Im Nachhinein war es mehr Nützliches als Überflüssiges, was wir einpackten. Neben Dingen für die beiden Kleinkinder Eddachen und Sabinchen, also Nahrung und Kleidung, waren es Papiere, Dokumente (Familienstammbuch!), zwei kleine Fotoalben, Sparbücher, Fotoapparat, Papis letztes Bild, erst wenige Monate alt, Lebensmittelkarten, die wir glücklicherweise schon für den Februar erhalten hatten, und weiteren Kleinkram, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Ach ja: Mutti und Omchen dachten an warme Kleidung und an Decken zum Zudecken. Wir Kinder zogen an, bzw. mussten drei Garnituren, jedes, anziehen. Weitsichtig gedacht, fürwahr. Genauer sind meine Erinnerungen nicht. Nur so viel: Wir haben weder über ein normales Maß hinaus gefroren, noch haben wir irgendwelche Blasen, Blessuren, Schrammen oder sonst etwas abbekommen.
Als wir alle, immerhin 17 Personen (Mahnke 4, Preuß 4, Großeltern 2 und wir 7, ohne Halina), gegen 18^30^ Uhr mit Sack und Pack auf dem Rummelsburger Bahnhof ankommen - wir vier ›großen‹ Lörzerkinder haben wieder jeder den kleinen Rucksack auf dem Rücken - es ist bitterkalt, der Schnee knirscht bei jedem Schritt - stehen auf dem Bahnsteig, gegenüberliegend, zwei Güterzüge, die mit flüchtenden Menschen gefüllt sind und sich mit jeder Minute weiter füllen. Ich kann mich erinnern, dass auf dem Bahnsteig ziemlich viel Licht vorhanden war, entgegen der sonst obligatorischen Verdunkelung. Als wir endlich die drei Güterwaggons (oder waren es mehr?) finden, die die Dienststelle eingenommen hat, beginnt der eigentliche Moment, an dem wir unseren Vater verlieren, wie sich im Nachhinein herausstellen wird. Denn die entsprechenden Waggons sind zur Hälfte oder noch mehr mit überwiegend dem privaten Gepäck der Damen der Dienststelle beladen, überladen für uns 17 Personen, die nicht mehr hineinpassen, besser: nicht hinein sollen. Denn so habe ich das empfunden. Dabei waren wir Jungen schon in einem Waggon drin. Ich hatte damals das Gefühl, dass wir alle in die Waggons noch hineingepasst hätten. Aber irgendwie ging es nicht. Da waren ja immer die Kinderwagen und die alten Menschen. Nur eines habe ich bis heute behalten: Der Waggon hatte einen wärmenden Ofen!
Also machten wir uns auf die Suche nach ausreichendem Platz für uns im gegenüberliegenden Güterzug, der aber ebenfalls fast überfüllt war. Letztendlich finden wir in einem Waggon Platz. Wenn ich es mir im Nachhinein überlege, war die Enge hier noch größer als im Dienststellenwaggon. Mit unserem Einstieg hier ist besiegelt, ohne es schon zu wissen, dass:
a) wir unseren Vater nicht mehr wiedersehen werden,
b) unser Schwesterchen Sabinchen sterben wird,
c) wir erst am 4. März am Ziel ankommen, einem Zielort, den wir eigentlich nicht haben wollten - und der doch der richtige war, und
d) als Folge der langen Flucht, Mutti sehr krank wird.
Unseren Fluchtweg kann ich nur in Kurzform beschreiben. Er ist abenteuerlich, strapaziös, unglücklich und glücklich zugleich, kommen wir doch bis auf Sabinchen alle heil in den Westen, in die spätere englische Zone. Während der Zug mit der Dienststelle innerhalb von drei Tagen an sein Ziel nach Güstrow kommt - hier wird unser Vater uns später suchen und nicht finden - beginnt für uns eine fürwahr unendlich lange, abenteuerliche Fahrt mit vielen Unterbrechungen. Schon in der ersten Nacht bleibt unser Zug nach nicht allzu langer Fahrt auf offener Strecke stehen. Im Laufe der nächsten beiden Tage gibt es immer wieder Halt auf offener Strecke - und als wir dann endlich einen Bahnhof erreichen, sind wir in Bublitz, Luftlinie nur wenig mehr als 30 km von Rummelsburg entfernt. In Zollbrücke, kurz vor Stolp, wurde in der ersten Nacht bereits die Lokomotive von unserem Zug abgekoppelt. Im Güterwaggon war es bitterkalt. Es gab nur einen kleinen sogenannten Kanonenofen und einige Briketts. Die warmen Plätze am Ofen waren von Anfang an von anderen Flüchtlingen belegt. Und nun unsere Mutter mit dem Baby. Sie gab ihrem Kind die Brust, im eiskalten Waggon, mit vereisten Wänden. Das Kind musste in dieser eisigen Luft trockengelegt werden während draußen der Schneesturm tobte. Es gab nichts Warmes für das Schwesterchen zu trinken. Die Muttermilch versiegte unter den gegebenen Umständen. Aufgetautes und nur lauwarmes Schneeschmelzwasser musste herhalten, um das Baby mit Nahrung zu versehen, mit Nestlé-Trockenmilch angerührt. Folge: Sabinchen wurde sehr krank, und auch Mutti erkältete sich so stark, dass sie uns auf unserem weiteren Fluchtweg kaum noch helfen konnte. Wir Kinder waren immer mehr auf uns alleine angewiesen. - Ich sollte hier vielleicht anmerken, dass Halina uns nur bis an den Waggon gebracht hatte und sich dann davon machte, was ich aber nicht als Vorwurf verstanden sehen möchte. Es ist ihr bestimmt schwergefallen, uns alleine zu lassen. Doch wäre es für sie gut gegangen, wenn sie im Waggon mit dabei geblieben wäre? Es kam hinzu, dass in den Zügen immer noch mehr linientreue als unbelastete Bürger waren. So gesehen, tat Halina für sich das einzig Richtige. Hoffentlich hat sie überlebt und den Krieg heil überstanden! Ich wünsche es ihr. Bis zur polnischen Grenze sind es von Rummelsburg ja nur wenige Kilometer gewesen. Muttis und Sabinchens Zustand ließ uns gar keine andere Wahl. Wir mussten alle den Zug in Bublitz verlassen. Sabinchen kommt ins Krankenhaus. Muttis Zustand gab Anlass zu großer Sorge. Unser Aufenthalt hier währt beinahe drei Wochen, ohne dass Mutter und Kind richtig gesund werden. Zunächst wurden wir in einer Schule im ersten Stock, vielleicht war es auch die Turnhalle, untergebracht. Es stellt sich heraus, dass Sabinchen wahrscheinlich Typhus hat. Täglich ging Mutti ins Krankenhaus, in der Hoffnung, dass sich der Zustand bessern möge, was aber leider nicht der Fall war.
Mit dem kranken Kind und ihren Sorgen blieb sie weitgehend alleine. Die Großeltern, ihre Schwester, und auch Mahnkes, hatten in diesen Tagen mit sich genug zu tun, teilweise natürlich auch mit uns, die es ja auch irgendwie zu versorgen galt. Unser unbekümmertes, kindliches Gemüt kam uns etwas größeren Kindern zugute, sodass wir die Ereignisse immer etwas leichter und unbeschwerter nahmen als sie hätten genommen werden müssen. Wir durchstreiften das Städtchen Bublitz, das in Friedenszeiten vielleicht 6000 Einwohner gehabt haben mag, in alle Richtungen. Die Stadt war nun propse voll von Flüchtlingen, die insbesondere mit Pferd und Wagen unterwegs waren, alle aus Ostpreußen kommend. Diese Trecks, diese vielen Menschen, brachten in die einheimische Bevölkerung viel Unruhe hinein, bewegte diese ebenfalls zum Aufbruch.
Schnell hatten wir, Reini und ich, ein Papierwarengeschäft ausgemacht, in dem es Bastelbögen gab, wo z.B. Kriegsschiffe und Flugzeuge ausgeschnitten und zusammengeklebt werden konnten. Uhu-Kleber gab es ebenfalls. Wir deckten uns ein und hatten so unsere Beschäftigung, fielen für diese Zeit niemandem zur Last. Weiter gab es für uns Interessantes zu beobachten, als in der Nähe und teilweise auch auf dem Schulhof, eine Militäreinheit, die vorwiegend aus mongolisch aussehenden Soldaten bestand, Pferde und Kühe erschossen, schlachteten und das Fleisch an Ort und Stelle brieten und kochten. Für uns fast gespenstisch anmutend, am Abend am funkenstiebenden Feuer. Das stank fürchterlich. Geknalle, Geschrei, Gesänge, alles durcheinander, gaben ein seltsames Erscheinungsbild. Der Gestank von verbranntem Horn ist mir jetzt noch in der Nase.
In den Räumen der Schule ist ein Kommen und Gehen, eine ständige Unruhe. Wir alle bemühten uns, in Privatquartiere umzuziehen, was auch teilweise gelang. So konnten wir doch wenigstens einmal ausschlafen. Die Strohunterlage, auf dem Fußboden liegend, erquickte wahrhaftig nicht! Am ersten Februar landeten wir in Bublitz. Am 15. Februar feierte ich meinen 11. Geburtstag, und ab dem 18. Februar setzte eine verstärkte Unruhe ein. Im Süden gab es Wetterleuchten, dachten wir, blitzte es doch immer öfter. Dieses Donnergrollen verstärkte sich am 19. Februar so stark, dass wir wussten, die Front ist nicht mehr weit. An diesem Tag nimmt der Russe Konitz ein, kaum mehr als 50 km entfernt von Bublitz. Höchste Zeit, unsere Flucht nach Westen fortzusetzen. Ohne sich abgesprochen zu haben, wie sollten wir auch, treffen wir uns alle am Morgen des 20. Februar, um weiterzuziehen. Mutti holt in großer Hast das sehr kranke Sabinchen aus dem Krankenhaus, und so bewegen wir uns zu Fuß in Richtung Westen weiter, eigentlich ohne Konzept, ohne Ziel. Nur weg wollen wir. Es sind merkwürdig wenig Menschen unterwegs.
Die nun folgenden Ereignisse sind mir etwas verschwommen. Nur so viel weiß ich, dass bald ein kleiner Militärlastwagen kam, der in unsere Richtung fuhr und der uns alle mit auf die Ladefläche steigen ließ. Wie Bruder Joachim sich zu erinnern glaubt, soll Mutti den Soldaten diverse Zigaretten gegeben haben, die sie hatte. Es gab ja sogenannte Raucherkarten, auf denen Zigaretten zugeteilt wurden, die wir hatten, von uns aber niemand rauchte. Wie dem auch sei: Ich denke, dass dieses der kritischste Punkt auf unserer ganzen Flucht gewesen ist. Hier und in dem Moment, als uns das Auto mitnahm, ist uns die Flucht fast gelungen, waren wir vor dem Russen wohl gerettet. Auch wenn es nur bis Belgard ging, vielleicht 50 km von Bublitz entfernt, so waren wir doch schnell in einer Stadt, die Bahnknotenpunkt war, von wo aus bessere Möglichkeiten des Fortkommens gegeben waren, so hofften wir.
Alle diese Strapazen, dazu die Kälte, das todkranke Baby im Kinderwagen, die weinende kleine Schwester Edda, die meistens mit im Kinderwagen war, dazu überhaupt keine entsprechende Nahrung für ein Baby, all das brach über Mutti herein. Ihr Zustand verschlimmerte sich so stark, dass nun sie ins Krankenhaus gemusst hätte. Doch kaum hatten wir in der Turnhalle des Lyzeums unser Strohlager eingenommen, starb Sabinchen im Arm der Mutter. Ganz unbemerkt entfernte sie sich mit dem toten Säugling und kam erst nach längerer Zeit wieder zurück, mit beinahe versteinertem Gesicht. Wie wir dann von ihr erfuhren, hatte sie einen Tischler gesucht, der einen kleinen Sarg gezimmert hat, an der Kirche noch einen alten Pfarrer finden können und vereinbart, dass am nächsten Tag die Beerdigung ist - wegen Typhus auch sein muss. Sie hat uns nur vage gesagt, wie sie dies alles in der kurzen Zeit arrangiert hat. Es hat neben guten Worten bestimmt auch noch Geld und weitere Zigaretten gekostet. Es war ihr Wille, dass ihr Kind anständig beerdigt werden sollte.
Februar 1945 - Sabine Lörzer stirbt
![]() Rechnung Arztkosten Niederkunft Sabine Lörzer |
![]() Beerdigungskosten Sabine Lörzer |
Am nächsten Tag, am späten Vormittag, vielleicht war es auch schon etwa 13^00^ Uhr, machen wir drei Jungen, Joachim, Reinhard und ich uns zum Friedhof auf. Den Weg dahin hat Mutti uns zuvor geschildert. Wir drei müssen wie Kinder von Landstreichern ausgesehen haben, die wir alsbald einem alten Pastor gegenüberstehen, der mit einer Kutsche ankommt, gezogen von einem gutmütigen alten Gaul. So ein Begräbnis hat es bestimmt für ihn noch nicht gegeben. Drei kleine, etwas verwahrlost aussehende Kinder am Grab eines Babys. Joachim erklärt dem Pastor die Umstände, die zu dieser Situation geführt haben. Dieser nahm uns, Reini und mich an die Hand, und wir vier gingen dann zur Leichenhalle, in der der kleine Sarg stand. Zum ersten Mal in unserem Leben werden wir hier mit Leichen konfrontiert. die hier in einer großen Zahl, nur dürftig mit einer Decke, einem Laken zugedeckt, aufgebahrt liegen. Durch den Frost sind sie sicherlich alle gefroren. Sie sind von den durchziehenden Trecks hier nur abgelegt worden, ohne dass sich die Angehörigen die Zeit für ein Begräbnis nehmen. Auf dem Friedhof selbst sind viele frische, große und kleine Hügel zu sehen. Nach uns wird es wohl nur noch ganz wenige richtige Bestattungen auf diesem Friedhof gegeben haben. Zu schnell kommt die Front näher. Ein Totengräber, der im hartgefrorenen Boden sicher große Mühe hatte, ein Loch zu schaufeln, trägt den kleinen Sarg zur Grabstelle, ein Gebet des Pfarrers und alles ist vorüber. - Ich habe mir zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken darüber gemacht, warum nur wir drei alleine zum Begräbnis mitgingen, wo doch Tante Anna und die Großeltern auch da waren. Warum das so ist, wird wohl ungeklärt bleiben. Wir sind deswegen ja auch niemandem böse. - Durch einen glücklichen Umstand erhalten wir im Sommer 2001 einen Auszug des Sterberegisters der Stadt Belgard für den Zeitraum 1945/46, der also nicht verloren gegangen ist. In ihm ist auch unsere Schwester Sabine aufgeführt, beerdigt auf dem Belgarder Friedhof Körliner Chaussee. Preußische Gründlichkeit!
Unsere Lage wurde immer bedrohlicher. Die Front rückte unaufhaltsam näher, und Mutti ist eigentlich nicht transportfähig. Frau Mahnke ist die, die zu raschem Aufbruch drängt, wollen wir nicht dem Russen in die Hände fallen. Wir versuchen zu erkunden, wie wir mit dem Zug am besten weiterkommen. Wir schaffen es tatsächlich, am 23. Februar bis nach Kolberg an der Ostsee zu fahren. Mutti erträgt alles, ohne zu klagen. Und sie hätte doch allen Grund, ihre Trauer, ihren Schmerz von sich zu geben. Doch wem hilft das in dieser Situation? Wir sind froh, sie im Zug mitzubekommen. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich um uns zu kümmern.
Zwischenstop in Kolberg
Ein ungeheures Gedränge setzt ein, als die Waggons freigegeben werden. Das Recht des Stärkeren wird rücksichtslos ausgeübt. Und wir mit kranken und alten Menschen, dazu mit vielen Kindern, mittendrin. Ich glaube, wir haben uns hier stärker gemacht als wir waren, sind mit unseren Kleiderpungeln, ein typischer ostpreußischer Ausdruck für einen Beutel, über die Gleise gehastet und schaffen es tatsächlich, uns Plätze in einem Güterwagen zu erkämpfen. Wir alle kommen mit, im gleichen Waggon! Fürwahr eine Glanzleistung, die wir da vollbringen! Ist das ein gutes Gefühl, erst einmal drin zu sein! Man muss sich das einmal vorstellen wie wir Knirpse da den Güterwagen erklimmen. Das Gepäck zu tragen schaffen wir nicht mehr. Wir ziehen es einfach hinter uns her. Ich sehe es noch immer vor mir, wie wir eine zu einem Beutel zusammengebundene Steppdecke, aus rötlichbraunem Stoff, hinter uns herziehen, die inzwischen schon Löcher bekommen hat. Aber loslassen, zurücklassen? Nein, das kommt für uns nicht infrage. Ich glaube, bis zu diesem Zeitpunkt haben viele bereits so viel Gepäck aufgeben müssen, verloren, nicht mehr Kraft genug, alles zu transportieren, noch dazu in dem Gedränge von vielen Menschen - es grenzt ja schon an ein Wunder, dass wir alle bis jetzt noch zusammengeblieben sind - dass wir froh sind, überhaupt den Kinderwagen in den Waggon hinein zu bekommen. Für mich wieder ein Wunder, dass der überhaupt gehalten hat, keinen Defekt hatte. In ihm unter der Matratze lagen ja unsere Wertsachen, Ausweise, Papiere, Fotoalben und Bilder. Und sie lagen da diebstahlsicher!
Nun endlich fährt der Zug in Richtung Stettin ab. Alle hatten wir das Gefühl, dass, wenn man erst über die Oder ist, man in Sicherheit sei. Zumindest die Erwachsenen hingen diesem Glauben nach. Wir Kinder waren in Geographie doch noch nicht so gut, als dass wir hieraus Schlüsse hätten ziehen können. Unser Waggon ist, wie man so sagt, brechend voll von Menschen. Joachim, der über die Zeit der Flucht Tagebuch auf Anraten von Frau Mahnke geführt hat, zählt 56 Personen, die im gleichen Abteil wie wir sind. Es ist fast Abend, als wir abfahren. Es wird trotzdem eine lange Nacht, die ich eigenartigerweise wieder recht gut behalten habe. Grob überschlagen, dürften es bis nach Stettin vielleicht 160 km sein. Für diese Strecke aber brauchen wir immerhin 24 Stunden. Denn nun merken wir erst, dass mit unserem Zug auch Flak und Geschütze transportiert werden. Die Fahrt in der Nacht war wohl aus sicherheitstechnischer Sicht gewollt. Am Morgen waren wir immer noch ein beachtliches Stück von Stettin entfernt, weil unser Zug immer wieder anhielt, teilweise in Waldnähe, getarnt mit Netzen. Ich glaube, dass sogar Munition transportiert wurde.
Am frühen Morgen konnten wir wieder den Geschützdonner im Süden hören und das Leuchten der Mündungsfeuer am Morgenhimmel wahrnehmen. Ein mulmiges Gefühl, wenngleich wir Jungen das mehr aufregend als ängstlich registrierten. Irgendwann gibt es einen fürchterlichen Knall in ziemlicher Nähe. Ob eine Luftmine in unserer Nähe eingeschlagen ist? Das Schießgeräusch verstärkt sich. Joachim meint, laut seinen Notizen, dass auf anderen Gleisen Lafetten, Langrohrgeschütze, auf Eisenbahnwaggons montiert, zu schießen begannen. Das Ziel sei die im Süden liegende etwa noch 20 km entfernte Front. - Irgendwann im Tagesverlauf landen wir in Altdamm, dem Stettiner Stadtteil, der auf dem rechten Oderufer liegt. Nun brauchen wir nur noch über die Oderbrücke rüber und das rettende Ufer wäre erreicht. Aber so einfach ist das wohl nicht. Denn die Brücke ist Tor und Engpass zugleich für viele Züge, viele Flüchtlinge. Die Eisenbahner müssen hier ein gewaltiges Pensum leisten, um alle Züge, auch die leer zurückfahrenden, sicher durch den Engpass zu navigieren.
Es dauert Stunden ehe unser Zug an der Reihe ist. Die Eisenbahner, die hier Dienst machen, schaffen Übermenschliches. Es gilt, leere Züge wieder zurückzuschicken, Militärtransporter bevorzugt abzufertigen, und alles bei sich näherndem Frontverlauf. Hinzu kommen immer mehr Fliegerangriffe. Tiefflieger -- meistens Engländer - bilden eine große Gefahr. Auf unserem Zug sind einige Flugabwehrgeschütze montiert, die Schutz bieten sollen. Denn wenn erst einmal die Lokomotive getroffen ist, ist das ganze Streckensystem lahmgelegt. Laut Wehrmachtsbericht ist zu diesem Zeitpunkt 25./26. Februar 1945 der Russe schon südlich von Stargard. Und Stargard ist kaum mehr als 25 km von Stettin entfernt.
Ankunft in Stettin
Bisher habe ich noch nicht von einem Übel besonderer Art gesprochen, das uns seit Bublitz begleitet hat und das mittlerweile beachtliche Ausmaße angenommen hat, nämlich die Verlausung. Diese Quälgeister setzten uns immer mehr zu, ohne dass wir ihrer Herr wurden. Wir wussten lediglich wie wir die Nissen, die Lauseier, zwischen den Fingernägeln knacken können. Und das taten wir reichlich. Eines will ich aber bemerken: Mich haben sie weitaus weniger gepiesackt als die meisten von uns. Das galt später ebenfalls für die Flöhe, die sich auch noch meldeten. Entweder ich habe Blut, das ihnen nicht geschmeckt hat oder ich bin immun gegen die Läuse gewesen. - Die Kleiderläuse fanden ideale Lebensbedingungen an uns vor. Viele Tage nicht richtig gewaschen, mehrlagige Unterwäsche am Körper, dazu gestrickte wollene Pullover, und der Kontakt mit vielen Menschen, denen es nicht anders als uns ging.
In Stettin haben wir das Tageslicht erst am anderen Tag wieder gesehen und das war der 25. Februar 1945. Wir sollen mit einem planmäßigen Zug weiter nach Westen fahren. Tatsächlich erfolgt das auch. Zu unserer Freude konnten wir ein Abteil belegen, das für Fahrgäste mit Traglasten war. Und da Mutti krank war, setzte eine Fürsorge ein, die mit dazu beitrug, dass wir das Abteil bekamen. Mutti wurde mit einer Tragbahre in den Zug gebracht, und ab fuhren wir. War das eine Wohltat, auf richtigen Holzbänken sitzen zu können. Natürlich war der Zug überfüllt, doch unser Schicksal mit der kranken Mutter half uns nun. Der Arzt auf der Sanitätsstation des Bahnhofs hatte eine doppelseitige Rippenfellentzündung und eine Lungenentzündung bei Mutti diagnostiziert und eine Einlieferung in das nächste Krankenhaus in Neubrandenburg angeordnet. Es dauerte nicht lange und wir waren in Pasewalk. An diese Stadt erinnere ich mich deshalb so genau, weil der Zug hier etwas länger halten musste und wir Kinder vom Roten Kreuz ein kräftiges Mittagessen bekamen, warm noch dazu. Es gab Kartoffelbrei mit viel Butter, die in den Brei hineingerührt wurde. Auch Brot mit Wurst belegt. Und ich glaube, dass wir Milch zum Trinken bekamen. Auf jeden Fall hat es uns sehr gut geschmeckt.
Der Zug fuhr dann weiter bis nach Neubrandenburg, wo wir aussteigen mussten und Mutti ins Krankenhaus gebracht wurde. Hier waren die Kriegsgeschehnisse doch noch weit entfernt. Bis auf die flüchtenden Trecks der Pferdefuhrwerke herrschte Ruhe und Frieden. So jedenfalls empfand ich das. Wir kamen wieder in einer Schule unter, wieder mit vielen Menschen in einem Raum. Unser Wohlbefinden, also das von uns Kindern, wurde bereits am anderen Tag besser, als wir nämlich alle zu einer Entlausungsanstalt gefahren wurden, irgendwo auf einem Militärgelände gelegen. Dazu mussten wir uns vollkommen ausziehen. Die Kleider und wir kamen in getrennte Kammern, und auf irgendeine chemische Weise erfolgte die Tötung der Läuse nebst den Lauseiern. Wir wurden zu diesem Zweck alle heiß geduscht und die Kleider in ein Kleiderbad getan. Als wir nach einiger Zeit unsere Kleider anziehen konnten, war der Spuk mit den Kleiderläusen vorüber. Wir überzeugten uns in den Kleidernähten, dass sie frei von Nissen waren. Sie waren es!
Der Aufenthalt sollte dann noch 6 Tage dauern. In dieser Zeit machten die Genesung bei Mutti allmählich Fortschritte. Eine Rolle spielte dabei sicher das bessere Essen, das sie bekam, das warme Zimmer, die medikamentöse Behandlung und wohl auch das Gefühl, dass die Gefahr des vom Russen überrollt zu werden, nicht mehr bestand. Wir konnten Mutti täglich besuchen. - Die Neubrandenburger Zeit ist mir noch gut in Erinnerung, vielleicht auch deshalb, weil ich damals mehrere Bilder malte, die sich mit dem Stadtbild beschäftigt haben. Diese Zeichnungen gibt es schon lange nicht mehr. Aber die Motive sind im Kopf gespeichert geblieben, waren es doch die Stadttore und der Neubrandenburger See, die ich zu Papier gebracht hatte. Seit diesem Kurzaufenthalt wusste ich, dass diese Stadt eine Stadtmauer und mehrere Stadttore hat. Wir Kinder haben sie, die Stadt, ausgiebig in diesen Tagen durchstreift.
An dieser Stelle ist ein weiterer Hinweis angebracht, nämlich der, dass wir, wenn wir etwas unternahmen, immer auch die Cousins Gerhard und Werner Preuß sowie Wolfgang Mahnke mit einschlossen. Wir saßen ja alle im gleichen Boot. An diesem Punkt möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir alle diese Wochen der Flucht gesundheitlich erstaunlich gut überstanden haben. Hier muss ich unsere Mutter mit einschließen, die bei der Krankheit, die sie hatte, dank ihrer robusten Natur, doch wieder gesund wurde. Wir haben bei der abenteuerlichen Flucht, rückblickend, wirklich Glück gehabt, dass sie uns in den sicheren Westen geführt hat.
Während der Woche in Neubrandenburg herrschte überwiegend sonniges Wetter mit milden Temperaturen. Wir alle sehnen uns aber doch nach eigenen vier Wänden und wünschen uns, bald an ein Ziel zu kommen. An was ich mich negativ überhaupt nicht erinnern kann, das ist das Essen. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, dass es mir nicht geschmeckt hat. Bruder Joachim schreibt in seinen Erinnerungen von der ewigen Kohlsuppe, die es gab und die ihm inzwischen zum Hals heraushing. Ebenso die oftmaligen Steckrübengerichte. Bei mir Fehlanzeige! Wir hatten in einem Punkt Glück, nämlich, dass wir für den Februar zweimal Lebensmittelkarten bekamen. Noch in Rummelsburg wurden wir mit den Karten für den Februar bedacht. Und in Bublitz gab es sie noch einmal. Offensichtlich war man der Meinung, dass es diese erst im Februar geben kann. Somit konnten wir also die doppelten Mengen von Fett, Zucker und Zigaretten kaufen.
Den Erwachsenen in unserer Gruppe ist nicht verborgen geblieben, dass der Russe immer weiter in das Reich eindrang. Neubrandenburg ist nur wegen Muttis Krankheit ein Zwischenstopp geworden. Also hieß es, sobald wie möglich weiterzufahren. Immer wieder wurde jetzt auch von Tieffliegerangriffen geredet, und den Gebildeteren unter uns war bewusst, dass die Weiterfahrt auf einer Hauptstrecke der Bahn stattfinden musste, die nach Hamburg führt. So wurde ein fahrplanmäßiger Zug ausgesucht, der nachts fuhr. Als Abfahrtsdatum wurde der Abend des 3. März 1945 gewählt. Eine Nachtfahrt deswegen, um vor Tieffliegern sicher zu sein. Unser Zielort ist Güstrow, kaum 100 km von Neubrandenburg entfernt.
Kein Ausstieg in Güstrow
Wieder spielte das Schicksal mit uns in dieser Nacht und zwar zu unseren Gunsten. Doch das wussten wir jetzt noch nicht. Wir schafften es doch tatsächlich nicht, in Bad Kleinen auszusteigen, fanden das Stationsschild wieder erst beim Abfahren in Bad Kleinen. Ich bin sicher, es hat unter den Erwachsenen diesbezüglich Vorwürfe gegeben. Mittlerweile war es schon früh am Morgen als unser Zug sich Lübeck näherte. Auch von dieser Fahrt gibt es zwei Erinnerungsmomente, nämlich, dass ich zuerst den Namen von Bad Kleinen las und später dann das Bild von einer Brücke über den Gleisen, die mir haften geblieben ist. Wir hatten keine Einfahrt, mussten auf offener Strecke halten, sodass ich die Brücke in mir aufgenommen habe. Es ist die, über die die Kronsforder Allee die Stadt nach Süden verlässt. Heute würden wir sagen, an der Vorrader Straße im Stadtteil St. Jürgen gelegen. (Wird 2007 erneuert).
Ankunft in Lübeck
Historische Einordnungen
Müssen noch ergänzt werden ...












