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Die Vergangenheit aus der Sicht eines allwissenden Nachgeborenen

Wer in dieser Zeit Ahnenforschung betreibt, der wird sich wohl und übel mit der Vergangenheit der eigenen Familie zur Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Eines direkt vorweg: ich maße es mir als aufgeklärter, um alle Folgen wissender Nachgeborener nicht an, auf Menschen in dieser Zeit mit dem moralischen Zeigefinger zu zeigen. Ich weiß nicht, wie ich damals gehandelt hätte.

Aber man muss durchaus zwischen sogenannten Mitläufern und Menschen unterscheiden, die entscheidenden gestaltenden Anteil an dem "Gelingen" der Machtausübung der Nazis hatten. Und es gibt die ewig Gestrigen, die aus dieser Zeit nichts gelernt haben. Da hatten wir auch einen in der Familie, der sich in einem ziemlich üblen Briefwechsel als solcher offenbart hat ... .

Außerdem ist der Name Lörzer im Nationalsozialismus durch zwei entfernte Verwandte massiv vorbelastet - die Brüder Bruno und Fritz Lörzer waren ganz sicher keine Mitläufer.

Familie Lörzer

Meine Familie mütterlicherseits, die Familie Lörzer, hat im 2. Weltkrieg sehr viel Leid erfahren. Mein Großvater, seine drei Brüder und zwei Neffen sind alle im Krieg als Soldaten gefallen. Dieses individuelle Leid hat Spuren hinterlassen. In den Briefen von Gustav Lörzer an seine Frau oder auch in den folgenden Tagebuch-Briefen von Martha Lörzer an ihren Mann, wird dieses Leid deutlich. Martha Lörzer hat danach ihr Herz verschlossen und dieser Umstand dürfte so einige Begebenheiten innerhalb der Familie erklären.

In den Unterlagen bei der Wohnungsauflösung meiner Eltern habe ich auch eine kleine Gedenkkarte zu Gustav Lörzer. Darin abgedruckt eine Anzeige aus dem Jahr 1955.

Der Begriff "Heldentod" wirkt auf mich als Nachgeborenem ein wenig befremdlich. Wann ist ein Mensch ein Held? Können Soldaten Helden sein, denn auch wenn sie selbst vielleicht ein tragisches Schicksal ereilt hat, so haben diese Soldaten vielleicht selbst auc getötet. Aber, wie schon mehrfach erwähnt, ein Aufrechnen des Leides auf beiden Seiten ist unsinnig. Die Frage bleibt dennoch: was ist ein Held?

In Wikipedia finden sich gleich mehrere Definitionen:

Ein Held [...] bzw. eine Heldin ist eine reale oder fiktive Person, die außergewöhnliche körperliche oder geistige Leistungen erbringt und dabei oft eigene Nachteile in Kauf nimmt. Dadurch ragt er aus einer sozialen Gruppe heraus, für die er identitätsstiftende Funktionen übernimmt, indem er ihre Wertvorstellungen idealtypisch verkörpert und von ihr in Mythos, Geschichte, Literatur, Ritual usw. immer wieder vergegenwärtigt wird.

Die Griechen haben da eine viel einfachere Definition:

Im antiken Griechenland verstand man unter einem Helden (altgriechisch ἥρως hḗrōs, ursprünglich „freier Mann“) einen wirkungsmächtigen Toten, der Anspruch auf Verehrung hatte. Dabei musste er sich nicht unbedingt Verdienste erworben haben – von vielen antiken Heroen wird vielmehr moralisch durchaus Fragwürdiges berichtet [...].


Grabstätte von Gustav Lörzer, Neuer Friedhof Berlin-Bernau

"Wirkungsmächtiger Toter" - da wird aus dem einfachen Wort "Held" etwas noch viel komplexeres. Die Frage, die sich hier dann stellt: auf wen wirkt diese Wirkungsmacht? In diesem Fall haben wir eine Erinnerungsanzeige, zehn Jahre nach dem Tod des "Helden" und der Wunsch nach Erinnerung innerhalb der Familie ist ganz sicher wirkungsmächtig.

Meine Mutter hat auch im hohen Alter ständig von ihrem Vater gesprochen. Wie er sich gefreut hat, nach drei Jungs jetzt auch eine Tochter zu haben. Dass er seinen Kindern das Schachspielen beigebracht hat und sich immer auf seine Kinder gefreut hat, wenn er mal zu Hause gewesen ist. Auch als meine Mutter schon pflegebedürftig im Bett lag, waren die Erinnerungen an die Kindheit und vor allem an den Vater ständig präsent und wurden immer wieder erwähnt. Als ich einmal erwähnt habe, dass sich ihre Eltern Briefe geschrieben haben, sagte sie sofort den Kosenamen "Puttichen". In zwei von meiner Mutter ausgefüllten Erinnerungsbüchern macht sie zu ihren Eltern diese Einträge:

Diese Wirkungsmacht zeigt sich selbstverständlich auch in dem Vorhandensein dieser Internetseiten. Ein Mensch, der 1/4 meiner Gene ausmacht, den ich nie kennengelernt - er mahnt mich, die Erinnerung wach zu halten.

Einige interessante Stellen finden sich in den Briefen von Gustav Lörzer. Am 06.09.1944 schreibt er:

Letztens hieß es ja in den Leitartikeln in der Zeitung „Der Sieg steht vor der Tür“. Oberzahlmeister Wienke sagte „ja, aber dann soll man den Sieg doch schleunigst rein lassen, warum soll er vor der Tür warten.“ Na ja, es wird schon alles werden.

Das finde ich eine sehr interessante Passage, denn Sie a) sehr schlau formuliert und b) zeigt sie die Nachdenklichkeit eines Frontsoldaten, der offensichtlich insgeheim die Realität sehr rational einschätzt. Schlau ist diese Passage, weil Gustav Lörzer nur jemanden zitiert. Er macht sich diese Aussage nicht zu eigen. Solche Äusserungen (wir wissen, dass Feldpost nicht selten zensiert wurde) können gefährlich sein, weil sie als aktive Wehrkraftzersetzung hätten angesehen werden können. In dem er also zitiert und mit dem letzten Satz "Na ja, es wird schon alles werden" sogar relativiert, nimmt er ihm seine "Sprengkraft". Dennoch wird deutlich, dass er über die Situation nachdenkt. Sind die Deutschen wirklich kurz vor dem Endsieg? Wenn es so wäre, warum dann nicht den Sack zu machen und den Krieg siegreich beenden. Hier macht sich also ein besorgter Familienvater so seine Gedanken ... .

Kleiner Exkurs: Der Briefwechsel von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel

Als ein Beispiel für einen Briefwechsel mit einem Frontsoldaten, bei dem die Personen sehr vorsichtig mit ihren Formulierungen sein mussten, gilt das Buch "Damit wir uns nicht verlieren". Sophie Scholl schreibt dort ihrem Verlobten Fritz Hartnagel. Hartnagel erkennt anhand der Briefe nicht, dass seine Verlobte zum Kreis derer gehört, die als "Weiße Rose" mit ihren Flugblättern das Regime in Deutschland kritisiert. Erst als Sophie Scholl schon veruteilt ist, erfährt er von ihrer Weltanschauung. Erstaunlich ist aber dennoch, dass die Briefe zwar keinen Anlass für einen Verdacht geben, Sophie Scholl aber nie ihre Gesinnung verstecken muss. Weitere Infos dazu auf dieser Seite ⧉.

Joachim Lörzer schreibt in der "Lörzer-Familienchronik" als Fazit und als Reflexion seiner Erinnerungen an die Zeit als Pimpf:

"Was hatte ich in den 5 Jahren nach Kriegsende nicht alles dazugelernt! Ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich schon in jungen Jahren kennenlernte, was ein demokratischer Staat ist und was er für meine persönliche Entwicklung bedeutete."

Ulrich Lörzer äußerst sich in seinen Lebenserinnerungen ähnlich:

Mit der Zeit nach 1945 beginnt für uns Deutsche die Demokratie, mit einer Verfassung, einem Grundgesetz, die/das so fortschrittlich ist, dass es eigentlich nur bergauf gehen kann. Wie selbstverständlich nutzen wir diese für uns günstigen Bedingungen, lernen die neuen Regeln spielend und haben dadurch nur Vorteile.

Entfernte Großonkel - Die Brüder Fritz und Bruno Lörzer

Es gibt aber eben auch eine andere Seite. Neben einem Onkel väterlicherseits mit stetigem, ewig gestrigem Gedankengut (hier dokumentiert), taucht der Name "Lörzer" mehrfach in den Chronologien des Dritten Reiches auf.

Denn beschäftigt man sich näher mit den "Persönlichkeiten" des Dritten Reiches, dann stösst man schnell bei der Betrachtung der Personen aus der 2. Reihe auf den Namen Lörzer. Die Brüder Fritz Lörzer und Bruno Lörzer - mit denen ich sehr entfernt verwandt bin, es sind Großonkel 4. Grades - müssen natürlich hier erwähnt werden. Beide würde ich keinesfalls zu den Mitläufern zählen. Beide waren einflussreiche, gestaltende Nazi-Größen - bei solchen Menschen konzentriert sich die Recherche auf deren Verantwortung für die Folgen ihres Handelns zwischen 1933 und 1945.

Wie die beiden mit dem Zweig des Lörzer-Stammbaumes mütterlicherseits verwandt sind, zeigt dieser Screenshot aus Ancestry.

Bruno Lörzer war die rechte Hand von Hermann Göring und hat diesen für die Fliegerei begeistert. Sein Bruder Fritz Lörzer war als Geistlicher Mirbegründer der "Deutschen Christen", eine nationalsozialistische Bewegung innerhalb der Protestanten, welche versucht hat, faschistische und christliche Weltanschauungen in Einklang zu bringen.

Beiden habe ich jeweils eine Seite "gewidmet", um deren Verwicklungen und Bedeutung für die Zeit des Nationalsozialismus aufzuzeigen. Ich glaube, dass ist nicht unwichtig in diesen Zeiten und gehört auf eine Seite mit Ahnenforschung dazu. Diese beiden Lörzers haben nichts mit meiner direkten Verwandtschaft zu tun - aber sie tragen eben denselben Familiennamen.