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Mein liebes Puttichen ...

Zuerst als Erklärung, die gerade für die "Nachgeborenen" meiner Generation wichtig ist. Für alle, die nicht wissen, was ein "Putti" ist: Das sind in religiösen Gemälden und Kunstwerken die kleinen Engelchen, die überall die Landschaft und den Himmel verzieren :-)

Putti oder Puttichen ist der Kosename von Gustav Lörzer für seine Frau Martha.

Einleitung

Die nachfolgenden Briefe wurden von Gustav Lörzer (mein Großvater mütterlicherseits) an seine Frau Martha Lörzer (meine Großmutter mütterlicherseits) geschrieben. Aufbereitet und aus dem Sütterlin "übersetzt" wurden diese Briefe von Ulrich Lörzer. Es sind insgesamt .. Briefe, die hier zusammen mit Faksimiles der Originale zu lesen sind.

Diese Briefe überdecken den Zeitraum der "Flucht aus Ostpreussen" und zeigen neben der tiefen Liebe eines Frontsoldaten in Ostpreussen zu seiner Familie vor allem auch die Sorge um das Gelingen der Flucht vor der Roten Armee, die ab etwa der 2. Jahreshälfte 1944 Ostpreussen überrennt.

Die "Flucht aus Ostpreussen" wird von Ulrich Lörzer in seinen Lebenserinnerungen ausführlich beschrieben. Diese Flucht hat eine besonders tragische Seite. Gustav Lörzer wollte seine Familie im Zielort Güstrow in Mecklenburg treffen, um zu schauen, ob alle in Sicherheit sind. Aber man verpasst sich dort. Der Zug, mit den Flüchtlingen fährt weiter bis nach Lübeck und es findet keine Kommunikation statt. Gustav Lörzer muss annehmen, dass die Russen die Flüchtenden eingeholt haben und seine Liebsten verloren sind.

Das wird deutlich in einem Brief von Gustav Loerzer an seine Schwester Ida vom 25. März 1945, die diesen am 28. März an Martha Lörzer, weitergeleitet hat - Gustav Lörzer hat keinen Kontakt zu seiner Familie und fast einen fatalen Entschluss, den er wohl auch umgesetzt hat - er stirbt im April 1945, vermutlich nur wenige Tage nach diesem Brief. Dieser Brief ist daher das letzte Lebenszeichen von meinem Großvater Gustav Lörzer.

Liebe Itel!
Habe heute Deinen Brief erhalten. Es freut mich, dass wenigstens Du den Russen entronnen bist und dass ich von einem meiner Angehörigen weiß, dass er sich außer Gefahr befindet. Ich bin aus dem Kessel H (Anm.: Heiligenbeil), der ja nun immer kleiner wird und der vielleicht schon heute aufgegeben werden muss, entronnen. Es war dort alles nur noch ein Trümmerhaufen; und zu dem kleinen Hafen musste man hinkriechen, da man wegen Artilleriebeschuss dauernd zu Bauche musste. Leider konnte man so gut wie nichts mitnehmen. Und was ich mithatte, das hat man mir am Hafen stehen lassen, nachdem ich nochmals den Dreckweg zurück zum Horst machen musste, um etwas Dienstliches nachzuholen und deshalb bei der Verladung nicht dabei sein konnte. Nun trage ich mir alles mühsam zusammen. Schade, dass Dein Brief nicht früher an¬kam, ich hätte dann Willi Deine Adresse angeben können. Willi hat H (Anm.: Heiligenbeil) ein paar Tage vor mir verlassen. Er hoffte, ins Reich zu kommen. Doch er wird Dich gewiss über die Auskunftstelle für Rückgeführte zu finden wissen.

Soeben ist Major Friedrich, mit dem ich hier zusammen wohne, durch Artilleriesplitter verwundet worden. Man geht nur noch geduckt durch die Straßen. Doch gegen Heiligenbeil ist es hier noch gold.

Von den anderen Angehörigen habe ich nichts mehr gehört. Martel schrieb mir einmal über das R.L.M. (Anm: Reichsluftfahrtministerium) einen Brief, der ein einziger Notschrei ist. Ich betrachte ihn fast als Abschiedsbrief für immer, denn er war am 25.2. in Bublitz, in der Nähe von Rummelsburg, auf der Flucht geschrieben. Unser Sabinchen lag dort wohl im Krankenhaus im Sterben. Nun möchte ich nur noch Gewissheit darüber haben, was aus meiner Frau und den Kindern geworden ist. Ist sie den Russen in die Hände gefallen, dann werde ich mich zur Fallschirmtruppe melden, denn was habe ich dann noch hier verloren.

Liebes Schwesterchen, ich wünsche Dir alles Gute. Bleibe tapfer, trotz allem. Vielleicht bist Du später die Einzige von uns, die sich in der Heimat wieder einfindet.

Deine Anschrift auf dem Umschlag ist nicht leserlich. Hoffentlich kommt der Brief an.
Herzlichen Gruß und nochmals alles Gute
Dein Bruder Gustav

Um diese Briefe also besser einschätzen zu können, empfehle ich, das Kapitel "Flucht aus Ostpreussen" zuerst zu lesen. Viele Bezeichnungen, vor allem die Ortsnamen, müssen wir heute ihren neuen Namen in der Oblast Kaliningrad und Polen zuordnen, denn nur so lässt sich Fluchtroute der Martha Lörzer mit ihren Kindern heute noch verfolgen.

In dem Kapitel "Flucht aus Ostpreussen" finden Sie daher eine tabellarische Übersicht dieser Ortsnamen und außerdem eine Karte, generiert mit OpenStreetMap und GoogleMaps, die in etwa diese Fluchtroute nachzeichnet. All das basiert auf den Schilderungen von Ulrich Lörzer

Mein Onkel Ulrich Lörzer hat diese Briefe aufbereitet und schildert in seinen Lebenserinnerunngen, wie er diese Briefe aufbereitet hat . Daher gebe ich hier ungekürzt seine Ausführungen wieder. Am Ende der Ausführungen finden Sie den Link zu den Briefen von Gustav Lörzer.

In einem weiteren Kapitel gibt außerdem die Tagebucheinträge von Martha Lörzer, von Juli 1945 bis Februar 1946. Martha Lörzer quält die Ungewissheit, denn sie weiß nicht, ob ihr Mann noch lebt oder in Gefangenschaft ist. So heisst Tag für Tag: "Ein einsames Herz geht schlafen".

Einordnung von Ulrich Lörzer

Aus den Lebenserinnerungen von Ulrich Lörzer

Ende des Jahres 2006 erhielt ich von meinem Bruder Reinhard, nach telefoni­scher Ankündi­gung, einen Packen Briefe, die ihm Bruder Joachim 2003 zuge­schickt hat, mit einer mir nicht bekannten Begründung. Reini sagt mir, dass er da­mit nicht viel anfangen kann. Sie wären bei mir sicherlich an der richtigeren Stel­le. Es handelt sich um die letzten Briefe unseres Vaters, Zeitraum 04. August 1944 bis 19. Januar 1945 an Mutti und uns, sowie Tagebuchaufzeichnungen unse­rer Mutter, die sie spora­disch 1945/46 geschrieben hat.

Vorweg will ich erwähnen, dass alles in Sütterlinschrift geschrieben worden ist. Die Schrift, die sauber, gleichmäßig und die Linie beachtend, von Papi zu Papier gebracht wurde, beeindruckt ungemein, mich jedenfalls. Es ist ein sehr flüssiger Schrift­zug, der ahnen lässt, dass Papi immer sehr viel geschrieben hat. Es ist ein ausge­feiltes Schriftbild. Wenn man dann bedenkt, unter welchen Bedingungen, mit welcher Gefühlslage geschrieben wurde, dann er­staunt das gleich­mäßige Schrift­bild umso mehr. Es ist beinahe immer in derselben Gleichmäßig­keit zu se­hen.

Ähnlich ist aber auch Muttis Schriftbild. Sehr gleichmäßig, große, gut lesbare und ausgeschriebene Buchstaben. Auffällig bei beiden Eltern sind die formulier­ten Sätze, die zu Papier gebrachten Gedanken und die sehr gute Rechtschreibung, ein­schließlich der Zeichensetzung.

Doch nun zum Inhalt und der Analyse der Briefe. Rein oberflächlich betrachtet kann man aus Papis Briefen sehr wenig über die kriegerische Entwicklung wäh­rend dieser Zeit herauslesen. Ein Außenstehender würde zu der Annahme kom­men, dass Papi eher die Linie der Partei, der NSDAP, vertritt, zumindest in An­deutungen. Er nutzt meiner Meinung nach aber diese Aussa­gen mehr zur Beruhi­gung seiner Frau, als dass er sie mit Überzeugung von sich gibt. Wieder­holt spricht er davon, dass, wenn erst die V2 und V3 zum Einsatz kommen, der Feind schon wieder aus Ostpreußen hinausgejagt werden wird -- und das noch im Janu­ar 1945! Gleichzeitig berichtet er aber auch vom Elend der flüchtenden Men­schen. Ich werde den Ein­druck nicht los, dass Papi davon ausgeht, dass die Post von der Gestapo gelesen und kontrolliert wird.

Unsere Wohnung in Neuhausen bietet er der Verwandtschaft als (Zwischen-) Domi­zil an, auf ihrer Flucht Richtung Westen. Seine Schwester Ida und einige Zeit später auch deren Mann, Willi Langanke, wohnen über mehrere Wochen in unserer verlassenen Wohnung. Und immer wieder be­tont er, dass er so froh ist, dass seine Fami­lie so frühzeitig aus Ostpreußen nach Rummelsburg gefahren ist. Einen Mo­nat später (Ende November 1944) wäre das kaum noch möglich gewe­sen, be­stimmt aber sehr viel schwieriger und für die Gesundheit von Frau und Kinder gefahr­vol­ler, schreibt er.

Nach dem Lesen aller Briefe werden mir die damaligen Verhältnisse wesentlich kla­rer, verstehe ich sie viel besser. Da wären zunächst die zeitlichen Einordnun­gen. Die Dienststelle ist Anfang August 1944 nach Rauschen verlegt worden. Folglich können wir drei Jungen Papi dort erst nach dem 01. August (Datum des ersten Brie­fes ist der 4.8.1944) in Rauschen besucht haben. Wir haben mit Sicher­heit vor den großen Luftangriffen der Alliierten auf Königsberg, Ende August 1944, diesen Besuch gemacht. Dieses deckt sich mit dem Inhalt von Papis Briefen.

Am 19. Oktober schreibt er, dass nun schon einige Tage vergangen sind, dass wir ihn verlassen haben. In Muttis Tagebuch finde ich den Hinweis, dass sie ihren Mann am 14. Oktober zum letzten Mal gesehen hat. Folglich haben wir also Neu­hausen/Königsberg am 15. Oktober verlassen. Es sei denn, Papi war an diesem Tag in Neuhausen und wir sind ein oder zwei Tage später alleine, ohne ihn, zum Haupt­bahnhof Königsberg gefahren (was meines Wis­sens der Fall ge­wesen ist). Ich weiß das aber nicht mehr so genau. -- Papi hat es sehr be­drückt, dass sei­ne Familie in Rummelsburg im Schweizerhaus unter solch er­bärmlichen Verhält­nissen leben musste. Zimmer gab es nur zwei, die genutzt werden konnten -- und die hatte wohl Frau Mahnke für sich und ihre Kinder in Anspruch genommen. Aus den Briefen geht hervor, dass Frau Mahnke in ihrer Art nicht gerade ein an­genehmer Mensch gewesen ist, hat sie doch ziemlich rigo­ros ihre Interessen zu Lasten von Mutti und uns Kindern genutzt. Papi schreibt, dass Herr Mahnke sich bei ihm mehrere Male erkundigt hat, wo die Familie ist und wie es ihr geht, da er über eine längere Zeit kei­nen Kontakt zu seiner Familie hatte. Aus den Briefen geht auch hervor, dass Frau Mahnke, Halina, unser Mäd­chen, immer wieder für ihre Bedürfnisse einge­spannt hat. Mutti hat ihm das wohl geschrieben. Papi hat alle ihm nur möglichen Be­ziehungen versucht einzusetzen, damit es seiner Fami­lie besser gehen möchte. Er verweist auf Namen seiner ehe­maligen Kollegen im Finanz­amt und auch im Landrats­amt, an die sich Mutti wenden soll, um ihr Los zu verbessern. Notfalls sol­len wir aufs Land, einige Kilo­meter auswärts der Stadt, zu einem Bauern umziehen.

Was entnehme ich den Briefen noch: Papi ist am 07. November nach Heiligen­beil versetzt worden. Am 24. Nov. hat sich sein Vorgänger im Rahmen einer grö­ßeren Feier verabschiedet. Papi erwähnt dabei, dass die annähernd 25 Offiziere und Be­amte ihre Gaudi am Wortgefecht zwischen dem Kommandanten Oberst­leutnant von Platen und Major Friedrich hatten. Am 26. Nov. schreibt er, Papi, dass er nun so ziemlich alles übernommen hat, sodass er jetzt „Herrscher aller Reussen bei der Gruppe Verwaltung" sei und nur dem Kommandanten verant­wortlich ist. Aller­dings wird er immer wieder auch zu militärischen Diensten, u.a. Exerzieren, beor­dert. Er erwähnt, dass er nach vielen Jahren unseren alten Fritz Führer von der Artille­rie aus Insterburg getroffen hat, der zu einer Gruppe von Offizieren ande­rer fliegender Verbände ge­hört, die vorübergehend in Heili­genbeil weilt, darun­ter auch Hauptmann Führer.

Mehrere Dinge sind erstaunlich: Papi hat viele Kontakte zu seiner Verwandt­schaft aber auch zu seinen Schwiegereltern in dieser Zeit gehalten. Omchen Bor­chert schickt ihm zu Weihnachten ein Paket mit Essen, Kuchen und Geflügel­fleisch. In dieser doch schon ziemlich brenzligen Lage werden Pakete geschickt, ja sogar noch Möbel - hier besonders ein Herd, den Mutti mit Verspätung erhält, damit wir in der Lage sind, unsere Räumlichkeiten wärmer zu ma­chen. Vor allem aber erstaunt die Regelmäßigkeit, mit der die Briefe in beide Richtungen - beina­he täglich -- geschrie­ben, geschickt wurden und auch ankamen. Darüber hinaus hat Papi we­nigstens ein­mal, meistens aber zweimal in der Woche mit Mutti tele­foniert. Bachers(?), die Be­sitzer(?) des Schweizerhauses haben Telefon gehabt. Dieses hat zu mancherlei Proble­men und auch einigen Verstimmungen geführt, kamen doch die von Papi im­mer lange vorher angemel­deten Gespräche oftmals dann zu nacht­schlafender Zeit an. Bachers waren über die­se nächtli­chen Störungen nicht sehr er­freut.

Während bis Anfang Januar die Lage in und um Heiligenbeil noch recht ruhig ge­wesen ist, nimmt der Flüchtlingsstrom in Richtung Heiligenbeil und Haff doch nun stark zu. Die jungen Frauen und Mädchen, die Papi in der Verwaltung hatte, erzähl­ten von den schlimmen Begebenheiten, die sie, mehr noch aber ihre Familien, durch­lei­den müs­sen. Viel Verzweiflung sieht und hört Papi.

Er spricht von weiteren oftmaligen Kontakten mit Herrn Czogalla, Stabsin­ten­dant wie er, und auch Stabsintendant Sinz in Neuhausen. Doch konnte er in die­sen letzten Wochen nur zweimal nach Neuhausen fahren und noch einige Dinge aus der Wohnung holen. Da ab der ersten Januarhälfte 1945 der strenge Winter in Ostpreu­ßen einsetzte, beginnen die Probleme und Sorgen hinsichtlich warmer Klei­dung, auch bei Papi, dem ein warmer Mantel und festes Schuhwerk fehlen. Seine Sorgen gelten aber auch immer wieder seiner Familie und der Trau­er, dass er zum Weihnachtsfest nicht bei ihr sein kann. Auch die Ge­schenke, die er nicht hat, berei­ten ihm Kummer. Er schafft es allerdings, dass wir Jungen un­sere vom Militärschnei­der gefertigten Mützen bekommen. Groß ist sei­ne Freude, als Sabin­chen geboren wird und Mutter und Kind wohlauf sind. Er erfährt auch noch, dass wir im Landratsamt neue und wär­mere Räume zugewie­sen bekommen haben. Und immer wieder verweist er auf die Dienststelle Krebs, an die Mutti sich wen­den soll.

Es fällt auf, bzw. ich lese aus den Briefen, dass Mutti ihrem Mann mehrere Male Pa­kete/Päckchen geschickt hat, mit vor allem Lebensmitteln. Ganz offensichtlich herrschte zu diesem Zeitpunkt bereits großer Mangel. - Ich frage mich heute, wie sie diese vielen Briefe schreiben konnte, vor allem auch wann sie das getan hat. Denn Papi hat alle Briefe bestätigt, ebenso die Anrufe. -- Unserem Vater hat sehr am Herzen gelegen, dass wir, seine Kinder, auf jeden Fall die Schule weiter besu­chen. Über Zeilen und auch Briefe, die wir Muttis Briefen beigelegt haben, hat er sich sehr gefreut, hat auch schon einmal angedeutet, dass Joachims Recht­schrei­bung nicht immer optimal ist.

Ich möchte bemerken, dass er aber nur sehr wenig in seinen Briefen auf seine Söhne eingegangen ist, sie nur zweimal mit Namen nennt, während er die Töch­ter öfter erwähnt, Eddalein, seine kleine „Hummel", fast immer. -- Der letzte hand­schriftli­che Brief unseres Vaters an uns, datiert vom 19. Januar 1945. In ihm sind Andeutungen, dass Rummelsburg doch hoffentlich nicht angegriffen wird. Bis jetzt, schreibt er, ist Pommern die ruhigste Gegend im ganzen Reich und er ist froh, dass wir dort sind. - Wenn man davon ausgeht - und das ist bisher der Fall gewesen -- dass die Post 2-3 Tage un­terwegs ist, dann dürfte Mutti diesen letzten Brief etwa am 22. Januar erhal­ten haben. Etwa zu diesem Zeitpunkt begann die Sowjetarmee ihren Groß­an­griff auf Ostpreußen, auf Königsberg, und die Einschließung, bedingt durch den Durchbruch im Raum Elbing. Ab diesem Zeitpunkt war es nicht mehr mög­lich, das Land mit der Eisenbahn zu verlassen. Es war die fatale Fehlein­schätzung der Parteiide­ologen, die meinten, der Feind werde sich zuerst Richtung Königs­berg bewe­gen. Die Südflanke, die auf deutscher Seite sehr schwach war, wurde mit gro­ßer Wucht und in erheblicher Übermacht des Feindes angegriffen, sodass die Einkesselung Ostpreußens -- mit Ausnahme des Frischen Haffs und der Fri­schen Nehrung -- relativ schnell erfolgte. Damit war der normale Postweg ab­geschnit­ten. Zu diesem Zeitpunkt kamen die Großeltern Karl und Auguste Bor­chert und einen Tag später auch Tante Anna, Muttis Schwester, mit ihren drei Kin­dern zu uns nach Rummelsburg. Sie gehörten mit zu den letzten Menschen, die noch mit einem regelmäßigen Zug Ostpreußen verlassen haben. Wer die Landkarte kennt, weiß, dass durch den südlichen Durchbruch der Sowjets die Front auf einmal sehr nah an Rummelsburg herangekommen war.

Historiker und ehemalige Militärs der Deutschen Wehrmacht haben ver­schie­dentlich darauf hingewiesen, dass die Partei (NSDAP) die militärische Lage total falsch (wirklich?) einschätzte, sich aber gegen die militärische Leitung, mit Rücken­stärkung des Führers und des Gauleiters (Koch) durchsetzte. Einige De­tails nachles­bar im Buch *So fiel Königsberg* von General Otto Lasch.

Beim Lesen der Aufzeichnungen von Mutti werde ich in meiner Annahme be­stärkt, dass mei­ne Eltern sich sehr innig geliebt haben müssen. Im Text meiner Lebens­erinnerungen habe ich geschrieben, dass Mutti sich, solange ich mit ihr zu­sammen war, niemals irgendjemandem mit ihrem Innersten anvertraut hat. Sie ist uns Kindern verschlossen geblieben. Ich verstehe sie erst jetzt nach dem Le­sen ih­rer niedergeschriebenen Gedanken richtig. Hier ist wohl die Wurzel ih­res le­benslan­gen Verhaltens zu finden. Gedanklich hat Mutti mit dem Verlust des Gat­ten auch ihr Leben, ihre Lebenslust abgeschlossen. Sie schreibt, dass nur wir Kin­der sie zum Weiterleben gezwungen haben. Sie hat mit ihrem Mann, auf den sie über ein Jahr lang nach Kriegsende sehnsüchtig gewartet gehofft hat, dass er doch noch kom­men möge, eine vollkommene Ehe geführt. In diesen wenigen Seiten ihrer Auf­zeichnungen ist so unendlich viel ihres Inneren herauszulesen. Wir haben sie nicht verstanden, wir alle ihre Kinder. Das dunkle Loch, in das sie gefallen ist, hat sie nicht mehr verlassen können.

Unsere Mutter hat ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis gehabt. In ihrer Schul­zeit -- diese ist nur eine kleine zweiklassige Dorfschule gewesen -- hat sie viele Ge­dichte gelernt, die sie später auf Bedarf abrufen konnte. Sie schließt ihre Aufzeichnun­gen mit einigen dieser Gedichte, die ich nachfolgend wiedergebe, ebenso ihre Tagebuchaufzeichnungen. Zuvor aber noch folgende Anmerkung: Diese ihre Aufzeichnungen, aber auch sämtliche Briefe unseres Vaters, haben wir Kinder bis zum Tod von Mutti nie gelesen. Ja wir kannten nicht einmal die An­zahl der Briefe -- zumindest kann ich das von mir sagen. Hat Mutti sie uns be­wusst vorent­halten? Oder waren sie ihr so heilig, dass sie diese nicht aus der Hand geben wollte? Hätte ich sie vorher gelesen, wären manche Fragen, die da­mit zusam­menhän­gen, vielleicht im Gespräch mit ihr, beantwortet wor­den. Ich danke ihr aber, dass sie mir/uns diese Dokumente als Nachlass erhalten hat.



Hier geht es zu den Briefen von Gustav Lörzer.